Angst vor dem Beurteilungsfehler – Muss eine Beurteilung wirklich sein?
Die meisten Jugendlichen können sich und ihre Fähigkeiten meist noch nicht so recht einschätzen. Deshalb geben Ausbilder regelmäßige Rückmeldung, mit und ohne einen Beurteilungsfehler. Die Leistung und das Verhalten der Auszubildenden werden also in einem Beurteilungsgespräch genauer unter die Lupe genommen. Anfangs in der Probezeit, nach den ersten Ausbildungsabschnitten, nach der Zwischenprüfung und schließlich am Ende der Lehre.
Vor jeder Beurteilung steht die Beobachtung. Danach führen Sie mit dem Auszubildenden ein Gespräch über Ihre Beurteilung und vereinbaren gemeinsam Ziele. Schriftlich festgehalten wird das alles in Beurteilungsbögen mit festen Kriterien. Das ermöglicht eine objektivere und nachvollziehbare Bewertung. Unter dem Strich werden damit Beurteilungen zum Bestandteil verschiedener Gesprächsanlässe. Übrigens, die Beurteilungsbögen können Sie auch als Grundlage für das Verfassen des Ausbildungszeugnisses am Ende der Berufsausbildung verwenden.
Wie beurteilen Sie als Ausbilder ihre Azubis?
- Erklären Sie den Auszubildenden Ihr Beurteilungssystem?
- Befragen Sie ggf. Kollegen oder andere Azubis?
- Werden Ihre Beurteilungen vom Auszubildenden unterschrieben?
- Ist das, was Sie beurteilen, auch ein Teil der Berufsausbildung?
- Wollen Sie wirklich an Schwächen und Stärken Ihrer Azubis arbeiten?
- Bitten Sie den Auszubildenden um eine Selbsteinschätzung seiner Kompetenzen?
- Erfragen Sie, welche Fortschritte/Ziele seiner Meinung nach erreicht wurden?
- Gleichen Sie gemeinsam Ihre und die Einschätzung der Auszubildenden ab?
- Ergänzen Sie ggf. den Beurteilungsbogen um Anmerkungen der Auszubildenden?
Einige Ausbilder stehen unter Zeitdruck, andere bewerten ihre Azubis streng und wieder andere übernehmen einfach die Meinung der Kollegen. Schließlich sollte im Beurteilungsgespräch auch die Möglichkeit genutzt werden, eine Rückmeldung über den bisherigen Verlauf der Ausbildung aus der Sicht der Auszubildenden zu erhalten. Vor der Beurteilung ist nach der Beurteilung. Deshalb kommt es auf eine gute Vorbereitung an.
- Termin und Uhrzeit für das Beurteilungsgespräch festlegen.
- Auf jeden Fall genügend Zeit einplanen (mind. 30 Minuten).
- Raum reservieren, indem ein ungestörtes Gespräch möglich ist.
- Schließlich eine offene Sitzposition am Besprechungstisch wählen.
Beurteilungsfehler bzw. Effekte in der Beurteilung – Reflexionscheck
Es gibt eine ganze Reihe von möglichen Beurteilungsfehlern. Demzufolge ist es nicht sinnvoll eine erschöpfende Fehlerliste aufzuzeigen. Kurzum, hier werden die gängigsten Beurteilungsfehler etwas genauer unter die Lupe genommen. Wenn Sie nach einem Beurteilungsgespräch die folgenden Fragen mit „JA“ beantworten können, dann handelt es sich hier um einen Beurteilungsfehler.
>>> Sympathie und Antipathie
Es wird allein nach Sympathie bzw. Antipathie geurteilt. Deshalb wirkt dieser Effekt aus dem Unbewussten und lässt sich nie ausschließen.
☐ Ist mir der Auszubildende einfach nur sympathisch?
Tipp: Sagen Sie zu sich: Sie sind mir super sympathisch, aber jetzt bewerte ich erst einmal Ihre Leistung. Danach wägen Sie die Gewichtung und Bewertung ab. Füllen Sie in Ruhe den Beurteilungsbogen aus und überlegen Sie, ob die Bewertung wirklich passt.
☐ Kann ich den Auszubildenden schlecht leiden?
Tipp: Holen Sie sich Kollegen, die Ihnen helfen. Dabei sagen Sie Ihren Kollegen, dass Sie sich befangen fühlen. Weiterhin, dass Sie ein neutrales Urteil gut gebrauchen können.
>>> Vorurteile gegenüber Azubitypen
„Lange Haare, kurzer Verstand.“, „Auszubildende sind billige Arbeitskräfte“, „Heutige Auszubildende sind bequemer als frühere.“. Diese und andere Vorurteile beruhen auf positiven oder negativen Erfahrungen der Beurteiler. Dabei übernimmt man schnell die Aussagen Dritter bzw. der herrschenden Meinung. Umso mehr ist Selbstkritik angesagt.
☐ Welche Erfahrungen habe ich mit dieser Art von Azubis schon einmal gemacht?
☐ Was halte ich generell von einem Azubi wie ihm?
Tipp: Viele Vorurteile stimmen nicht mit der Realität überein. Daher beobachten Sie Ihre Azubis im Ausbildungsalltag. Und zwar nach festen Beurteilungskriterien. Anschließend halten Sie Ihre Ergebnisse unbedingt schriftlich fest. Dann sind Sie auf dem richtigen Weg.
>>> Überstrahlungs- bzw. Halo-Effekt
Das altgriechische Wort „Halo“ bezeichnet den Hof um eine Lichtquelle. Ins Auge jedoch fällt nur die Lichtquelle. Dabei schließt ein Ausbilder von einem Merkmal des Azubis, welches ihn besonders stark beeindruckt. Von solch einer Eigenschaft ist der Ausbilder dann so fasziniert, dass ihm auf den ersten Blick gar nicht auffällt, wie er damit alle anderen Eigenschaften des Azubis „überstrahlt“. Im Übrigen, auch die negativen Eigenschaften des Azubis. So werden Leistungen von gut aussehenden, sprachgewandten und freundlichen Azubis höher bewertet.
☐ Was ist aus meiner Sicht typisch für den Auszubildenden?
Tipp: Schauen Sie sich genau die Beurteilungskriterien aus dem Beurteilungsbogen an. Meist gibt es eine Beschreibung der zu bewertenden Eigenschaft. Bitte betrachten Sie jedes Merkmal einzeln und nicht zusammen mit anderen Merkmalen.
>>> Andorra-Phänomen (selbst erfüllende Prophezeiung)
Benannt wurde der Effekt nach dem Drama Andorra des Schweizer Schriftstellers Max Frisch. Kurzum: „Man wird so, wie man beurteilt wird“. Zum Beispiel die Aussage: „Du wirst das nie lernen“ ist eine, sich selbst erfüllende Prophezeiung. Die Erwartungen, die ein Ausbilder in den Azubi setzt, beeinflussen deren Verhalten. Der Azubi wird dann so, wie er beurteilt wurde. Wenn zum Beispiel ein Azubi neu in einem Betrieb anfängt und der Ausbilder ihm noch keine Fähigkeiten zutraut, macht er ihm jeden Handgriff genau vor. Nach einiger Zeit ist der Azubi selbst der Ansicht, dass er eigentlich unfähig ist, selbständig zu arbeiten und erledigt seine Arbeiten nur noch so, wie der Ausbilder sie vorgibt. Dadurch wird das Bild des Ausbilders bestätigt, dass der Azubi zu keinem selbständigen Arbeiten in der Lage ist. Wie wird der Ausbilder den Azubi wohl bewerten?
☐ Was habe ich ursprünglich vom Auszubildenden erwartet?
☐ Inwiefern hat der Auszubildende meinen Erwartungen entsprochen?
Tipp: Hinterfragen Sie sich selbst. Kann mein Azubi auch ohne mich, also selbstständig, seine Aufgaben erledigen? Fragen Sie Ihre Kollegen: Wie verhält sich der Azubi, wenn Sie als Ausbilder mal nicht anwesend sind? Erst dann macht es Sinn den Beurteilungsbogen in aller Ruhe auszufüllen.
>>> Selektive Wahrnehmung (Aufmerksamkeitsblindheit)
Aus der Vielzahl von Eigenschaften über den Auszubildenden, wählt der Ausbilder aufgrund seiner persönlichen Sichtweise oder seiner Interessen nur einen kleinen Teil für seine Beurteilung aus. Dementsprechend macht der Ausbilder damit diese wenigen Informationen zur Grundlage seines Urteils. Die Gefahr liegt darin, dass der Ausbilder dabei immer nur seine schon vorhandenen Urteile und Vorstellungen bestätigt. Schließlich kann er auch falsche Schlussfolgerungen nicht mehr überprüfen. Kurzum, ganz nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht.
☐ Welche Bemerkungen sind mir beim Auszubildenden besonders aufgefallen?
Tipp: Tauschen Sie sich mit Ihren Kollegen aus. Was fällt anderen auf, was Ihnen entgeht?Führen Sie kontinuierlich und systematisch Beobachtungen durch. Halten Sie das beobachtete Verhalten der Auszubildenden stets schriftlich in einem Beobachtungsprotokoll fest.
>>> Tendenz zu Strenge
„Wenn ich ein „sehr gut“ gebe, dann wäre der Auszubildende ja besser als ich“. Bei der Beurteilung von Auszubildenden geht es nicht um die eigene Leistung als Ausbilder. Vielmehr geht es darum, was Sie von einem Auszubildenden erwarten können. Kurzum, wenn ein Auszubildender in einer Sache sehr gut ist, dann sollten Ausbilder das auch entsprechend bewerten und anerkennen.
☐ Erwarte ich mehr von meinen Auszubildenden, als von mir selbst?
Tipp: Vergleichen Sie nicht Ihre Leistungen mit denen der Auszubildenden. Bewerten Sie besser die Stärken und Schwächen des Azubis. Außerdem halten Sie sich an die Maßstäbe der Berufsgruppe und die Leistungen anderer Auszubildender.
>>> Tendenz zur Milde
Mit zu viel Rücksicht beurteilen manche Ausbilder ihre Auszubildenden. Hierdurch ist das , Anspruchsniveau faktisch niedriger. Die Gründe können sehr unterschiedlich sein. Zum einen möchten manche Ausbilder einfach einer Diskussion aus dem Weg gehen und zum anderen den Auszubildenden nicht „schaden“. Übrigens, niemand ist in allen Dingen gut.
☐ Befürchte ich mit meiner Beurteilung unangenehme Folgen für den Azubi?
Tipp: Sagen Sie den Auszubildenden, wo er gut ist und wo er sich noch verbessern kann. Das bringt den Auszubildenden weiter in seiner Entwicklung.
>>> Tendenz zur Mitte
Leider ist die Goldene Mitte nicht immer sinnvoll. Vor allem, wenn es um Beurteilungen geht. Durchschnittliche Bewertungen entstehen aus der Neigung, extrem gute bzw. schlechte Beurteilungen vermeiden zu wollen. Das kommt insbesondere bei einem Beurteilungsbogen mit einer ungeraden Skala vor. Hier wird dann vom Ausbilder die Mitte angekreuzt.
☐ Um Diskussionen zu vermeiden, gebe ich lieber eine Durchschnittsbewertung.
☐ Ich gehe einem positiven oder negativen Urteil lieber aus dem Weg.
Tipp: Nutzen Sie vorbeugend einen Beurteilungsbogen mit gerader Skala. Ihr Auszubildender kann sich nur weiterentwickeln, wenn er sich seiner Stärken und Schwächen bewusst wird. Deshalb hat der Auszubildende von einem Beurteilungsbogen mit durchgehendem Kreuz in der Mitte nichts. Dadurch kann er weder stolz auf seine Leistung sein, noch an seinen Schwächen arbeiten.
>>> Korrektureffekt
Er entsteht immer dann, wenn ein Ausbilder sich an den bisherigen Beurteilungen der Auszubildenden orientiert. In diesem Fall ist der Ausbilder nicht bereit, gezeigte Veränderungen seines Azubis angemessen zu bewerten. Dieser Fehler wirkt sich bei Auszubildenden besonders gravierend aus, da sie in einem Lebensabschnitt stehen, der von starken Leistungs- und Verhaltensschwankungen geprägt ist.
☐ Ich bewerte auch frühere Verhaltensweisen des Azubis in meiner Beurteilung.
☐ In der Bewertung sind mir die bisherigen Beurteilungen meiner Kollegen wichtig.
Tipp: Versuchen Sie die bisherigen Beurteilungen eines Auszubildenden gar nicht zu lesen. Verlassen Sie sich auf Ihre eigenen Beobachtungen, welche Sie schriftlich in einem Beobachtungsprotokoll festgehalten haben.
Irrtum ist erlaubt – Lernen Sie an Ihren Beurteilungsfehlern
Manchmal ärgert sich ein Ausbilder, wenn ihm ein Beurteilungsfehler unterlaufen ist. Besonders wenn sich daraus negative Konsequenzen ergeben. Sich zu ärgern über das, was man falsch macht, ist natürlich. Schließlich fällt es nicht jedem leicht seinen Fehler auch wirklich einzugestehen.
Das schmerzhafte Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, bringt uns aber auf den Boden der Realität zurück und hilft, zukünftig besser zu beurteilen. Entscheidend ist hierbei, wie gut wir mit Fehlern und Fehleinschätzungen umgehen können. Fehler machen heißt auch Lernen. Denn nur, wen wir uns bewusst machen, dass wir einen Fehler gemacht haben, können wir auch daraus lernen.
Der amerikanische Tierpsychologe Thorndike entdeckte mit der instrumentellen Konditionierung das Lernen durch Versuch und Irrtum. Demzufolge probieren wir viele unterschiedliche Verhaltensweisen und Strategien aus, bis wir schließlich eine Strategie finden, die uns zu unserem Ziel führt.
Wie könnte eine Strategie zum Umgang mit Beurteilungsfehlern aussehen?.
- Den Beurteilungsfehler anerkennen, damit man ihm die schmerzende Kraft nimmt.Ohne den eigenen Beurteilungsfehler zu akzeptieren und als solchen zu erkennen, wird kein Lerneffekt entstehen.
. - Die volle Verantwortung für den Beurteilungsfehler übernehmen, sonst ist man das Opfer. Denn, wenn man andere für den Beurteilungsfehler verurteilt, gibt man Verantwortung ab.
. - Den Beurteilungsfehler genauer unter die Lupe nehmen, indem man fragt: Was fehlte? Diese Frage eröffnet Möglichkeiten und führt zum Lernen.
. - Bei der nächsten Beurteilung das Verhalten wirklich ändern und bei sich selbst beginnen. Lassen Sie den Beurteilungsfehler für sich arbeiten. Lernen Sie von ihm und schauen Sie, was Sie das nächste Mal benötigen, um es besser zu machen.
Unter dem Strich ist das Lernen aus Fehlern immer noch eine hohe Kunst. Neues ausprobieren, dabei auch mal scheitern, um wieder aufzustehen und es beim nächsten Mal besser zu machen. Dadurch entwickelt man sich weiter, lernt und kann Fehler als Helfer anerkennen.
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